Almut Schnerring und Sascha Verlan: „Wir haben eine Carekrise“

Was gewinnt die Gesellschaft, wenn Care-Arbeit fair verteilt wird?

Durch die Coronapandemie ist die Systemrelevanz von Sorge- und Fürsorgearbeit, der sogenannten Carearbeit, endlich mehr in den Fokus gerückt. Studienleiterin Dr. Kathrin S. Kürzinger hat mit Almut Schnerring und Sascha Verlan, den Initiator*innen der Equal-Care-Day-Initiative, ein Gespräch über die Bedeutung von Carearbeit, die fehlende Wertschätzung und mögliche Veränderungen geführt.

„Wir haben keine Wirtschaftskrise, sondern wir haben eine Carekrise“, so beschreibt Almut Schnerring in diesem Akademiegespräch die aktuelle Lage der Carearbeit. Das Gespräch kann hier oder auf unserem YouTube-Kanal eair-Diskurse  abgerufen werden.

Carearbeit ist viel zu oft „unsichtbare“ Arbeit
Zusammen mit  Sascha Verlan hat Almut Schnerring am 29. Februar 2016 die Equal-Care-Day-Initiative ins Leben gerufen, eine unabhängige und zivilgesellschaftliche Initiative. Warum am 29. Februar? Schalttag und Carearbeit haben eines gemeinsam: Beide werden oft übergangen. Mit ihrer Initiative wollten die beiden Journalist*innen auf den Gender Care Gap aufmerksam zu machen. Seitdem setzen sie sich dafür ein, dass  Carearbeit öffentlichstärker  sichtbar wird, dass sie angemessen wertgeschätzt und zwischen den Geschlechtern gerechter aufgeteilt wird. In Deutschland werden über 80% der Fürsorgearbeit von Frauen geleistet – im beruflichen Sektor arbeiten 34% aller berufstätigen Frauen im Caresektor und im Privaten leisten Frauen über 50% mehr Sorge- und Familienarbeit als Männer.

Ursachen für die ungleiche Verteilung von Fürsorgearbeit
Die Ursachen für diese großen Geschlechterunterschiede liegen laut Schnerring und Verlan u.a. in unterschiedlichen Geschlechterrollen, die Mädchen und Jungen schon mit geschlechterspezifischem Spielzeug im Kinderzimmer und Kindergarten ‚erlernen‘. Doch auch die Industrialisierung, unser Wirtschaftssystem und die Steuerpolitik wie das Ehegattensplitting haben die Geschlechtertrennung hinsichtlich Erwerbsarbeit und Haushalts- und Sorgearbeit vorangetrieben.

Viel zu wenig beachtet: Das Caresystem ist Basis der produktiven Wirtschaft
Die Auswirkungen des Lockdowns angesichts der Corona-Pandemie stellen nun unser Wirtschaftssystem infrage und legen die Systemfehler schonungslos offen: Das Caresystem ist die Basis der produktiven Wirtschaft. Carearbeit betrifft alle Menschen, und zwar von der Geburt bis hin zur Grabpflege, niemand ist völlig unabhängig von der Sorgearbeit anderer. Doch diesem Zusammenhang wird bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt.

Auslagerung von Carearbeit ist keine Lösung
Durch die Global Care Chains bekommt das Thema Carearbeit zudem eine internationale Dimension: Wer es sich leisten kann, lagert Carearbeit häufig aus. Wegen der großen Lohnunterschiede gibt es eigene Migrationsströme, da Migrantinnen aus armen Ländern die steigende Nachfrage nach Carearbeit in Ländern des globalen Nordens bedienen. Oft sind sie selbst Mütter und fehlen dann in ihren eigenen Familien vor Ort.

Produktionsarbeit und Reproduktionsarbeit müssen zusammengedacht werden
Im Akademiegespräch mit Studienleiterin Dr. Kathrin S. Kürzinger plädieren Almut Schnerring und Sascha Verlan stattdessen dafür, Wirtschaft und Privatleben, also Produktionsarbeit und Reproduktionsarbeit, zusammenzudenken. Man sollte darüber hinaus nicht finanziell abgestraft werden darf, wenn man sich für eine Carekarriere entscheidet: „Wir müssen uns klar machen, dass Carearbeit keine Ressource ist, die endlos und umsonst zur Verfügung steht.“

Das in diesem Jahr initiierte Equal Care Day Manifest bündelt die Forderungen
Am diesjährigen Equal Care Day, dem 29. Februar 2020, haben Almut Schnerring und Sascha Verlan das Equal Care Day-Manifest initiiert, über das sie im Akademiegespräch ebenfalls berichten. Das Manifest fordert u.a. Caregutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen statt Einmalzahlungen, um einerseits Menschen von privater Carearbeit zu entlasten und andererseits die Anbieter von Carearbeit beispielsweise kleine Careunternehmen, die oftmals von Frauen gegründet werden, zu unterstützen.

Zur Person:
Almut Schnerring ist Sprecherzieherin, Hörfunk-Journalistin und Autorin. Sascha Verlan ist Autor, Herausgeber und Journalist. Das Paar hat drei Kinder, lebt und arbeitet in Bonn. Beide haben 2016 die Initiative Equal Care Day gegründet.